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„OPEN LIBRARY“ HAT UNS GERETTET

In­ter­view mit Ivana Oruc

Ivana Oruc ist geboren und aufgewachsen in Bosnien und Herzegowina, wo sie an der Universität von Sarajevo Bibliothekswesen und Weltliteratur studiert hat. Nach knapp einem Jahrzehnt in der Bibliothek der Juristischen Fakultät in Sarajevo hat sie 2017 an die Bibliothek der Hochschule Mainz gewechselt, wo sie die Ressorts Personal und Finanzen sowie elektronische Medien verantwortet. Ein besonderer Fokus ihrer Arbeit liegt auf der Modernisierung und Weiterentwicklung der Dienstleistungen. Im Gespräch mit Bettina Augustin erzählt sie, wie die Bibliothek die Corona-Krise gemeistert hat.

 

Frau Oruc, die Bibliothek der Hochschule Mainz hat bei der Digitalisierung bundesweit eine Vorreiterrolle – im Oktober 2019 wurde das System „Open Plus“ eingeführt, das die Öffnungszeiten maximal erweitert und die Nutzung der Bibliothek auch ohne Personal erlaubt. Wie funktioniert die „Open Library“, nachdem die Bibliothek seit 21. April wieder geöffnet ist?

Die Bibliothek wurde an beiden Standorten am 23. März geschlossen. Seit dem 21. April ist sie wieder geöffnet, unter Auflagen. Die „Open Library“ hat uns tatsächlich „gerettet“. Es war möglich, die Bibliothek für Nutzerinnen und Nutzer zu öffnen, aber gleichzeitig auch das Bibliothekspersonal zu schützen – denn die Bibliothek, zumindest am Campus, kann ohne Personal genutzt werden. Somit kann der Großteil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Home-Office arbeiten. Selbst wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort sind, sind sie und die Nutzerinnen und Nutzer geschützt, da kein Kontakt notwendig ist. Auch die Öffnungszeiten sind durch das System flexibel, weil sie nicht vom Personal abhängig sind. Wäre die Bibliothek nicht an die Gebäudeöffnungszeiten gebunden, könnte sie 24/7 geöffnet sein. 

 

Hat sich das Ausleihverhalten der Bibliotheksnutzerinnen und –nutzer seit Corona verändert, werden andere Medien bestellt? 

Es wäre sehr schwer, die Inhalte der Medien zu verfolgen und herauszufinden, ob sich in diesem Kontext etwas geändert hat. Es muss bedacht werden, dass wir eine relativ kleine Bibliothek sind, der Bestand unterstützt das Studium, enthält also größtenteils Standardliteratur.  

Was sich definitiv geändert hat, ist der Medientyp. Die Corona-Krise hat zu einer Digitalisierungsoffensive geführt und selbst die größten Skeptiker mussten alles auf digital umstellen. Die Bibliothek war relativ gut vorbereitet, da sich unser digitaler Bestand in den letzten Jahren sehr entwickelt hat, aber es war trotzdem nicht ausreichend, um die Bedürfnisse aller Studiengänge abzudecken. Die Hochschule hat deshalb Ende März hohe Beträge für elektronische Ressourcen zur Verfügung gestellt. Das ZIK der Hochschule hat in dieser Zeit auch eine VPN-Verbindung auf die Beine gestellt (technisch stabiler als die vorherige Lösung), welche die Voraussetzung für die Nutzung der elektronischen Medien von Zuhause ist. Es war also ein Zusammenspiel, welches wir m. E. gut gemeistert haben.

Die Schließung der Bibliothek hat aber eins gezeigt – auch das Gedruckte ist wichtig! Sie hat die Bedeutung des Bestandes bestätigt. Sehr viele Nutzerinnen und Nutzer haben während der Schließung kontinuierlich nachgefragt, wann die Bibliothek wieder öffnet und nutzen den gedruckten Bestand, seit es wieder möglich ist. Mich persönlich freut es, dass die traditionelle Rolle der Bibliothek ein bisschen dadurch bestätigt worden ist.

 

Seit Anfang August kann man in der Bibliothek am Campus und in der Holzstraße auch wieder Arbeitsplätze vor Ort nutzen. Wie wird das organisiert, wie sind die Modalitäten?

An beiden Standorten wurden die Tische nach Corona-Vorschriften umgestellt. Dies hat zu deutlich weniger Arbeitsplätzen als sonst geführt: am Campus von 99 im Untergeschoss auf 30; in der Holzstraße von 30 auf 5. Die Gruppenarbeitsräume können nicht benutzt werden, genau wie die Rechercherechner und Scanner/Kopierer. Nur ein Rechner pro Standort steht für die OPAC-Recherche zur Verfügung. Die Arbeitsplätze müssen über das Raumbuchungstool im Voraus reserviert werden. Spontan vorbeikommen und bleiben ist also weiterhin leider nicht möglich. 

Es war sehr wichtig, die Arbeitsplätze der Bibliothek zur Verfügung zu stellen, obwohl Arbeitsplätze im ganzen Gebäude schon genutzt werden konnten. Die Bibliothek hat eine besondere Lern-Atmosphäre, die sehr wichtig für Studierende ist. Außerdem ist es praktisch, schnell ein Werk aus dem Regal zu holen, um etwas nachzuschlagen. Die Öffnung hat sich als gute Entscheidung gezeigt, denn die Arbeitsplätze werden trotz Semesterferien genutzt.

Das Wintersemester 2020/21 wird ein „Hybridsemester“ mit einer Kombination von Präsenz- und digitalen Lehrformaten werden. Welches Szenario zeichnet sich für die Bibliothek ab?

Auch für die Bibliothek wird das kommende Semester eine Herausforderung. Für die ersten Wochen sind auch unsere Pläne für die Einführungen „hybrid“. Es werden Präsenzeinführungen und Einführungen über Zoom stattfinden. Was die Nutzung der Bibliothek angeht: Nach den Semesterferien werden die Öffnungszeiten erweitert. Am Campus seit September personallos von 8:00 bis 18:00 Uhr, Samstags von 08:00 bis 13:00 Uhr, in der Holzstraße seit Oktober von 9:00 bis 16:00 Uhr. Wir sind selbstverständlich für alle Studierenden auch telefonisch oder per E-Mail erreichbar.

Die Anzahl der Arbeitsplätze wird weiterhin beschränkt bleiben, auch die Nutzungsweise wird gleichbleiben (Reservierung, Übermittlung der Daten, Abholung der Bestellung in der Holzstraße usw.). M.E. wird der Fokus auch weiterhin auf den elektronischen Ressourcen liegen, weil Studierende nicht so oft vor Ort sein werden und die Nutzung komfortabler ist. 

Die Bibliothek wird sich in den nächsten Monaten mit unserem E-Learning Angebot beschäftigen, um unsere digitale Unterstützung zu erweitern und zu verstärken. 

 

Die Bibliothek der Hochschule Mainz verfolgt das strategische Ziel, eine „Teaching Library“ zu werden. Was ist darunter zu verstehen?

In der heutigen Informationsgesellschaft sind wir von einer enormen Vielzahl der Informationsquellen umgeben; gleichzeitig ist es eine Zeit der Fake-News, unseriösen Quellen usw. Es ist sehr schwierig herauszufinden, auf welche Quelle und welchen Inhalt man sich verlassen kann. Im Hochschulkontext ist das noch wichtiger und umfangreicher. Es geht aber nicht nur um relevante Informationen, sondern auch darum, was man mit diesen Informationen anfangen kann. Informationsbedarf erkennen und formulieren können, die Info ermitteln, den Inhalt und die Quelle bewerten, sie effektiv nutzen und sich der Verantwortung bei der Weitergabe bewusst sein, ist Informationskompetenz. Nach dem Prinzip des lebenslangen Lernens ist die Informationskompetenz eine Schlüsselqualifikation und Voraussetzung für die aktive Teilhabe an der Wissensgesellschaft.

Eine „Teaching Library“ ist eine Bibliothek, die die Vermittlung und Förderung von Informationskompetenz als Querschnittsaufgabe der Bibliothek sieht. Und dies ist unser strategisches Ziel. 

Unsere „Teaching Library“ wird aus drei Säulen bestehen: Präsenzkurse, Einzelsprechstunden (Book a Librarian) und das E-Learning Angebot. In den nächsten Monaten werden die Bibliotheksmitarbeiter verschiede Kurse entwickeln, die einzeln oder als Module gebucht werden können. Diese Module werden individuell an die Bedürfnisse der einzelnen Studiengänge angepasst sein. Z.B. werden Master-Studierende folgendes Modul buchen können: „Literaturrecherche in Datenbanken für Wirtschaftswissenschaftler“ – „Literaturverwaltungsprogramme, Einführung und Aufbaukurs“ – „Richtiges Zitieren und Vermeidung von Plagiaten“. Für Studienanfänger wird z.B. „Recherche im OPAC“ angeboten, für wissenschaftliche Mitarbeiter, neben Literaturverwaltung und Recherche, auch „Elektronisches Publizieren und Open Access“ usw. Einige Studiengänge bieten Kurse zu diesen Themen schon an, aber einige eben nicht. Unser Ziel ist es, ein einheitliches, aber trotzdem individuelles Kursprogramm anzubieten, welches Studierende stärkt und gleichzeitig das Lehrpersonal entlastet. 

 

Die Bibliothek versteht sich nicht zuletzt als Aufenthaltsort, der Studierenden ein Refugium bietet. Es gibt Studierende, die keinen eigenen Internetzugang haben oder zu Hause nicht in Ruhe arbeiten können. Was bedeutet dies in Zeiten von Corona?

Das ist wahrscheinlich das einzige Puzzleteil der Bibliothek, welches nicht digital gemacht werden kann. Wir haben uns in den letzten Jahren viel Mühe gegeben, um die Bibliothek gemütlich zu gestalten; sie soll einladend sein, ein Ort sein, wo man, neben Studium und Zuhause, entspannen und abschalten kann – ein dritter Ort. Wir haben verschiedene Sitzgelegenheiten angeschafft – Sofa, Sessel, Hochstühle, Sitzsäcke etc. um viele Bedürfnisse und Vorlieben der Nutzerinnen und Nutzer zu unterstützen. Und jetzt steht das alles seit Ende März leer! Wir haben zwar die Arbeitsplätze wieder zur Verfügung gestellt, und das war sehr wichtig, es ist aber nicht das, was wir mit unserer Wohlfühlatmosphäre bezwecken wollten. Auch der Kontakt zum Bibliothekspersonal ist wichtig – Nutzerinnen und Nutzer stellen Fragen an der Theke, im Vorbeigehen, kommen in unsere Büros, wenn sie uns sehen – und so bekommen sie Hilfe, werden über weitere Dienstleistungen und Möglichkeiten informiert. Zurzeit ist das leider nicht möglich. Viele melden sich zwar per E-Mail, aber viele denken, ihr „Problem“ ist dafür nicht groß genug, was wir natürlich schade finden. Wir sind für jede Kleinigkeit da!

Das alles macht mir für die Zukunft ein bisschen Sorgen. Um sich in der Bibliothek frei zu fühlen, sich mit ihr zu identifizieren, zu sehen, welche Möglichkeiten sie bietet, müssen Nutzerinnen und Nutzer in ihr Zeit verbringen. Neue Studierende werden, zumindest am Anfang, diese Gelegenheit nicht haben. Ich hoffe, dass, wenn die Normalität wieder einkehrt, sie die Bibliothek als wichtigen Ort (nicht nur Dienstleister) ihres Studiums erkennen. Wir werden auf jeden Fall alles dafür tun. 

Im Gespräch:

Ivana Oruc, Leiterin der Bibliothek der Hochschule Mainz

Bettina Augustin, Stabsstelle Kommunikation