"Das Buch passt in unsere Zeit"
Interview mit Michèle Ganser über Walter Benjamins „Einbahnstraße“
Walter Benjamin – der Autor, der vor allem für seine Gedanken zur Aura von Kunstwerken bekannt ist – veröffentlichte im Jahr 1928 das Buch „Einbahnstraße“, eine Sammlung kurzer literarisch-philosophischer Texte. Der Masterstudiengang „Stuffed Birds“ der Fachrichtung Kommunikationsdesign nahm sich dieses Werks an, analysierte es und entwickelte Gestaltungskonzepte, um Benjamins Gedanken im neuen Gewand zu zeigen. In Zusammenarbeit mit der Büchergilde Gutenberg wurde schließlich das Konzept von Michèle Ganser umgesetzt, deren Arbeit im Herbst 2020 bei der Büchergilde als Buch erschien.
Mareike Knevels fragte Michèle Ganser, wie es zu der Publikation kam. Die junge Gestalterin spricht im Interview darüber, wie sie Benjamins komplexe Sichtweisen in ihre Illustration transportiert sowie von der heutigen Relevanz seiner Texte.
Michèle, wie aktuell ist Benjamins „Einbahnstraße“ aus deiner Sicht?
Ich finde einzelne Textabschnitte in diesem Buch aktueller denn je. Besonders passend für unsere heutige Zeit sind die beiden Kapitel „Kaiserpanorama XIV.“ und „Zum Planetarium“. Die beiden Texte beschäftigen sich mit der Ausbeutung der Natur durch den Menschen. Benjamin übt hier Kritik an der Gesellschaft seiner Zeit: Diese ist im Gegensatz zu den alten Völkern von Habgier und Profit besessen und kann die Gaben der Natur nur „raubend empfangen“. Ganz treffend schreibt er, „daß sie die Früchte, um sie günstig auf den Markt zu bringen, unreif abreißt und jede Schüssel, um nur satt zu werden, leeren muß, so wird ihre Erde verarmen und das Land schlechte Ernten bringen“.
Gerade heute – in einer Zeit, in der der Klimawandel immer präsenter wird und wir uns bewusster mit unserem Planeten auseinandersetzen sollten – sind Benjamins Gedanken noch genauso relevant wie vor rund 100 Jahren.
Benjamin ist bekannt durch seinen philosophisch-essayistischen Stil. Seine Inhalte sind teilweise schwierig zu fassen. Wie wurdet ihr an den Text von Walter Benjamin herangeführt?
Bevor wir uns mit dem Buch „Einbahnstraße“ befasst haben, bekamen wir von Dr. Karen Knoll einen genauen Einblick in Benjamins Vita, die historischen Hintergründe und nähere Informationen zum Buch. Dies half uns Studierenden enorm, einen besseren Zugang zu Benjamins Texten zu erlangen.
Das Buch las dann jeder selbstständig für sich, wobei es eine regelrechte Herausforderung war, die Sprache, Gedanken und Benjamins Intention zu verstehen. Oft wurden die Texte auch immer und immer wieder gelesen und Satz für Satz, Wort für Wort analysiert, bis man sie ansatzweise verstanden hat.
Eine große Hilfe war auch der Austausch mit den anderen Kommilitoninnen und Kommilitonen. Zudem standen uns bei Fragen die Dozentinnen und Dozenten Prof. Charlotte Schröner, Prof. Monika Aichele, Eberhard Kirchhoff und Karen Knoll jederzeit zur Verfügung. Durch die wöchentliche Betreuung der Dozentinnen und Dozenten konnten wir unsere Arbeiten im Hinblick auf verschiedene Schwerpunkte wie Konzept, Ideen, Gestaltung und Illustrationen besprechen sowie Feedback und Anregungen erhalten. Diese Tipps wurden dann in der darauffolgenden Woche umgesetzt und wieder neu besprochen. Zudem gab es mehrere Zwischenpräsentationen im Plenum, was eine gewisse Abwechslung in die Besprechung der Projekte brachte und dem Ablauf guttat.
Hattet ihr für die Buchgestaltung bestimmte Vorgaben, einen Rahmen, an den ihr euch halten solltet? Wie ein festgelegtes Format, bestimmte Farben oder ein Medium wie Illustration oder Fotografie?
Die einzige Vorgabe bezog sich auf das Format des Buches, das nicht größer als DIN A4 sein durfte. Ansonsten waren wir in der Gestaltung komplett frei. Dies zeigen auch die verschiedenen und vielfältigen Endresultate: So geht die Bandbreite der Illustrationen von Fotografien, Collagen oder Fotomontagen, wie denen von Sandra Britz, die kleinen abstrakten Kunstwerken gleichen, bis hin zu analogen und digitalen Illustrationen.
Hierbei konnten auch die Konzepte, die den einzelnen Projekten zugrunde lagen, nicht unterschiedlicher sein. So wurden für Telmo Joao Walter Benjamins Traumschilderungen zum zentralen Ausgangspunkt für sein Konzept. Alexander Bihn, ein anderer Kommilitone, beschäftigte sich mit Walter Benjamins Leidenschaft für das Theater und Bühnen-Assoziationen in der „Einbahnstraße“. Jeder Studierende fand seinen persönlichen Zugang und seine ganz eigene Umsetzung, wodurch tolle und vielfältige Gestaltungskonzepte entstanden sind.
Was hast du von Benjamins „Einbahnstraße“ für dich mitgenommen?
Der Text von Benjamin hat mich gelehrt, dass Besonderheiten oft in kleinen, unscheinbaren Dingen sehr versteckt zu finden sind. Der Text ist auf den ersten Blick sehr verschachtelt und schwierig zu verstehen ist, hält aber spannende und wichtige Themen bereit.
Vor allem habe ich aus der „Einbahnstraße“ mitgenommen, dass Durchhaltevermögen wichtig ist und sich auszahlt. Der schönste Moment ist, wenn es im Laufe des Lesens und der stundenlangen Analyse endlich „Klick“ macht, man Benjamins Denkweise ein Stück näher kommt und seine Gedanken nachvollziehen kann.
„Keiner sieht weiter als in den Rücken des Vordermanns.“
Das klingt wirklich schön – trotz der Anstrengung. Gibt es eine bestimmte Passage aus dem Text, die dich in deiner Arbeit besonders beeinflusst hat?
Ja, die Aussage „Keiner sieht weiter als in den Rücken des Vordermanns“ aus dem Kapitel „Deutsche trinkt deutsches Bier“. Dieses Textzitat von Benjamin wurde Aufhänger für das Konzept meines Buches.
Ich fand es unheimlich spannend, dass Walter Benjamin in der „Einbahnstraße“ der Gesellschaft seiner Zeitgegenüber sehr kritisch eingestellt war und die Menschen beispielsweise als „blinde Masse“ (Kaiserpanorama, II.) bezeichnet. Die „blinde Masse“ sorgt sich nur um ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse und verschließt sich für die bedeutsamen Dinge im Leben, so Benjamin. Mir war es wichtig, diese Botschaft, die auch heute noch sehr aktuell ist, zu nutzen und den Leser im Buch für die verborgenen Elemente beziehungsweise die wichtigen Themen zu sensibilisieren.
Das stelle ich mir in der Umsetzung nicht ganz einfach vor: Wie bist du an die Gestaltung gegangen? Was hat dich inspiriert? Kannst du etwas vom Entstehungsprozess erzählen? Als sich die Idee für mein Konzept und die Gestaltung herauskristallisiert hat, kamen mir zuerst Wimmelbilder und illustrierte Kinderbücher in den Sinn, in denen oft auf ähnliche Weise Inhalte versteckt werden, die von den Kindern entdeckt werden können. Da die Texte Benjamins schwierig zu verstehen sind, wollte ich dem Leser, der Leserin durch meine Illustrationen eine Hilfestellung geben und dazu verleiten, sich den Texten spielerisch anzunähern. Allerdings bestand die Schwierigkeit darin, nicht in einen zu kindlichen Illustrationsstil abzudriften, sondern dem Niveau der Texte entsprechende Bilder zu schaffen. Die Textabschnitte, die mir am interessantesten erschienen und bei denen ich ein grobes Bild vor Augen hatte, sind dann Gegenstand für meine Illustrationen geworden. Dabei fertigte ich kompositorische Collagen aus einzelnen Elementen an, die ich mir vorher überlegt hatte. So bekam ich dann relativ schnell einen ersten visuellen Eindruck. Die Illustrationen sind dann mit einem schwarzen Fineliner in 0,05 mm Strichstärke entstanden. Diese Größe ermöglichte es mir, bestimmte Elemente sehr detailliert darzustellen. Die fertigen Illustrationen wurden anschließend hochauflösend eingescannt, in Photoshop von Flusen und Staubpartikeln befreit und blau eingefärbt. Zuletzt habe ich meine Illustrationen im Layout auf dem hellblauen Hintergrund platziert. Da, wie du es auch sagst, Benjamins Texte oft sehr verschachtelt und erst nach und nach zu verstehen sind – wie bist auf die Motive deiner Illustrationen gekommen? Waren die Ideen sofort da? Oder entstanden manche Motive erst beim mehrmaligen Lesen? Das grobe Konzept stand ziemlich schnell fest. Ich wollte in meinen Zeichnungen mit zwei Ebenen experimentieren, wobei die erste Ebene – die allgemeine Bildebene – vergleichbar mit den beschreibenden Texten von Benjamin ist. Die zweite Ebene sollte in meinen Illustrationen die versteckten Elemente beinhalten, die die Intention der Texte symbolisiert. Bis zu den finalen Illustrationen durchlief ich dann einen Prozess: Bei meiner ersten konzeptionellen Umsetzung ging ich noch anders vor. Hierbei experimentierte ich mit zwei Zeichnungen, die ich übereinander legte. Die eine Zeichnung war in einem dunklen und dominanten Ton gehalten und die andere färbte ich in einen helleren Ton. Die Zeichnung im helleren Ton wurde so zur „versteckten Ebene“. Mithilfe einer Folie sollte dann der Leser beim Betrachten der Zeichnung die versteckten helleren Elemente deutlicher sehen als die dunkleren. Nach Rücksprache mit den Dozentinnen und Dozenten wurde jedoch schnell klar, dass es diesen komplizierteren Zusatz der Folie nicht braucht und sich dies auch einfacher darstellen ließe. Daraus resultierten dann meine finalen Illustrationen.
Wieso hast du die Farbe Blau für deine Buchgestaltung gewählt? Gibt es da auch einen besonderen Bezug zu Benjamin? Die von mir gewählten Farben haben keinen inhaltlichen Bezug zu Benjamin. Mir war es aber wichtig, im Layout und in den Illustrationen eine gewisse Modernität zu erzeugen, um einen Kontrast zu den auf den ersten Blick teilweise eher „antiquiert“ wirkenden Inhalten zu erzeugen. Daher habe ich mich für den dunklen Blauton entschieden. Ergänzt wird dieser durch den hellen Blauton, der die farbigen blauen Flächen der Illustrationen noch mehr in den Vordergrund hebt. Durch den stärkeren Kontrast ist ein tieferes Eintauchen in die Illustrationen gegeben. Entstanden ist ein wunderschönes Buch, das von der Büchergilde Gutenberg verlegt wurde. Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit der Büchergilde? In dem Seminar unseres Masters „Stuffed Birds“ haben wir sehr eng mit der Büchergilde Gutenberg zusammengearbeitet. Mitte Januar 2020 präsentierten wir bei einem Schulterblick unsere Konzepte nicht nur vor den Dozentinnen und Dozenten, sondern auch vor Cosima Schneider und Silvio Mohr-Schaaff. Cosima Schneider ist die Herstellungsleiterin der Büchergilde und Silvio Mohr-Schaaff ist für Vertrieb sowie Marketing zuständig.Die beiden nahmen sich viel Zeit, um jedem von uns Feedback zur Optimierung der Konzepte oder hilfreiche Tipps mitzugeben. Nachdem ich erfahren hatte, dass die Büchergilde sich für mein Buch entschieden hat, habe ich noch über mehrere Wochen intensiv mit der Büchergilde zusammengearbeitet. Meine erste Ansprechpartnerin war hier Cosima Schneider, die das Buch hergestellt hat und sich besonders viel Zeit für mich nahm sowie mir bei jeglichen Fragen zur Seite stand. Auch dabei habe ich noch viel Neues gelernt: Bei der Produktion eines Buches gibt es viele Dinge zu beachten, die mir vorher gar nicht bewusst waren. Sehr darüber gefreut habe ich mich außerdem, als die Büchergilde mir die Möglichkeit bot, in einer Buchhandlung in Zürich vor Publikum das Konzept und die Gedanken, die hinter der „Einbahnstraße“ stehen, zu erläutern. Ich bin sehr dankbar für diese Erfahrung und konnte dadurch viel mitnehmen und lernen.
Der Masterstudiengang „Stuffed Birds“ der Fachrichtung Kommunikationsdesign fand unter der Leitung von Prof. Monika Aichele, Prof. Charlotte Schröner, Eberhard Kirchhoff und Dr. Karen Knoll statt.