Projekt
Problemstellung
Immer mehr Texte werden in digitaler Form gelesen. Dabei handelt es sich nicht nur um E-Books, E-Magazine und E-Paper, sondern es werden auch Websites, Social Media Posts, Blogeinträge etc. digital rezipiert. Digitale Lesemedien sind daher auch Mittelpunkt einer kontroversen Debatte im Sinne von "Print-versus-Screen" um Chancen und Risiken insbesondere im Bildungsbereich. Die dazu bisher erfolgte Forschung ist oftmals stark quantitativ und verfolgt häufig eine sehr objektzentrierte Betrachtungsweise, die stark an den Eigenschaften gedruckter Bücher ausgerichtet ist und digitale Varianten stets an jenen misst, dabei aber Vorteile der Digitalität wie Durchsuchbarkeit, Aktualisierbarkeit, Hypertextkonzepte usw. außer Acht lässt oder vernachlässigt. Hier soll eine neue Betrachtungsweise zielführende Erkenntnisse schaffen, bei der digitale Lesemedien aus der Perspektive der Medien- und Wirtschaftsinformatik als Melange aus Informationsgütern und Software angesehen werden, auf die vermittels universaler oder spezialisierter Endgeräte wie PCs, Smartphones, Tablets, E-Readern etc. zugegriffen wird. Die Aufgabenstellung lässt sich in das Fach der Digital Humanities einordnen, das die Adaption von Algorithmen, Verfahren und Werkzeugen aus der Informatik für Probleme aus den klassischen Geisteswissenschaften beschreibt.
Forschungsfrage
Es stellt sich daher die Frage, wie solche digitalen Lesemedien beschaffen sein müssen, um für ihre Leser, abhängig von deren speziellen Bedürfnissen, Lesesituationen und Lesemotivationen, einen wahrnehmbaren Nutzen zu stiften. Dieser Frage sehen sich Verlage gegenüber, die mit neuen digitalen Erscheinungsformen von simplen PDF-"Text-Klonen" bis hin zu aufwändigen Apps oder Enhanced E-Books experimentieren, oftmals aber ohne differenzierte Produktentwicklungsstrategien und an den Bedürfnissen ihrer Leser vorbei.
Referenzmodell
Wie aber kann Lesernutzen definiert und gemessen werden? Konzepte der User Experience und Usability, wie sie aus der Medieninformatik bereits bekannt und für die Testverfahren etabliert sind, können hier Ansätze für eine Lösung bilden. Modelle zum Marktwert von Informationsgütern aus der Wirtschaftsinformatik und Schichtenmodelle der Dimensionen von User Experience aus der Mediengestaltung liefern hier brauchbare Ansätze. Allerdings ist Lesen als Medienrezeptionsform im Unterschied zum Gebrauch von Software von einer Vielzahl weiterer Faktoren beeinflusst. Bei der Anwendung von IT-basierten Techniken in den Digital Humanities ist daher auch immer auf eine Berücksichtigung von deren Kontexten und Anforderungen zu achten, IT darf nicht zum Selbstzweck werden oder zum unreflektierten quantitativen "Auswerten" von Datenbeständen missbraucht werden. Ganz im Sinne soziotechnischer Systeme sollen Akteure, Institutionen und Technik sinnvoll miteinander verbunden und letztere vermittels bewusst gestalteter Mensch-Maschine-Schnittstellen produktiv einsetzbar gemacht werden.
Es wurde daher ein Referenz-Prozessmodell entwickelt, dass die bewusste Konzeption von Lesernutzen in digitalen Lesemedien in zwei Phasen "Definieren" und "Gestalten" mithilfe verschiedener Rollen ermöglicht und dabei Zielgruppenausrichtung, Produktstrategie, Nutzerbedürfnisse, Informationsarchitektur, Informations- und Navigations- sowie Interaktionsdesign konsistent entwickelt, ohne dass Widersprüche entstehen. Ein solches Referenzmodell kann entweder zur Gestaltung neuer Produkte oder zur Evaluation und Verbesserung bereits existierender Produkte eingesetzt werden.
Empirische Überprüfung
Für jede Komponente des Referenzmodells wurde nun eine geeignete Messmethode aus der Sozialforschung bzw. der Usabilityforschung ausgewählt. Experteninterviews, Inhaltsanalyse, Identifikation der Informationsarchitektur, heuristische Evaluation, Nutzerbeobachtung mittels Eyetracking und Videobeobachtung, Nutzerbefragung und Usability-Fragebögen (hier: AttrakDiff) zur Messung der Nutzerzufriedenheit liefern die Daten zu den einzelnen Komponenten, die dann auf Konsistenz geprüft werden können und aus denen sich Empfehlungen für bestehende oder neue Produkte generieren lassen.
Um die Validität des Referenzmodells zu belegen, wurden in einer deutschlandweiten Ausschreibung des Verbands Deutsche Fachpresse insgesamt acht Fachmagazine aus verschiedenen Domänen und von acht unterschiedlichen Fachverlagen gewonnen, die mit Hilfe des Modells evaluiert wurden. Fachmagazine stellen eine komplexe Unterkategorie digitaler Lesemedien dar, da hier schneller Zugriff und selektives Lesen von Artikeln, zweidimensionale Navigation über Ausgaben hinweg und innerhalb von längeren Artikeln und Integration verschiedener Medienformate wichtige Produktfaktoren sind. Die folgende Tabelle zeigt die unterschiedlichen Fachdomänen:
Magazin | Fachdomäne |
M1 | Konsumgüter-Einzelhandel |
M2 | Berufsbildung |
M3 | Bauingenieurwesen |
M4 | Schiffswesen |
M5 | Personalwesen |
M6 | Pharmazie |
M7 | Landwirtschaft |
M8 | Rechtswesen |
Mit jedem Fachverlag wurden drei Experteninterviews geführt, die Erscheinungsformen der digitalen Magazine vollständig inhaltlich und funktional durchgetestet, zwischen sechs und zehn Nutzer mittels Eyetracking bei der Lösung von Interaktionsaufgaben beobachtet und die Einstufungen der Magazine hinsichtlich hedonischer und pragmatische Qualität zur Messung der Zufriedenheit ermittelt. Die Messungen wurden dabei größtenteils im Eyetracking-Labor der Hochschule Mainz durchgeführt.
Ergebnis
Durch den Multimethodenansatz und die vergleichende Fallstudienanalyse konnte gezeigt werden, dass zum einen viele Magazine unabhängig von ihrer Fachdomäne und somit ihrer Zielgruppe sehr ähnlich Probleme aufwiesen. Dies zeigte sich vor allem in den kritischen Kernaktivitäten des Zugangs zum Magazin sowie der Navigation zu bestimmten Artikeln und der Suche. Zum anderen ergaben sich aber auch sehr unterschiedliche Anforderungen der Leser an Funktionalität und Inhalt, ferner spielten bei der Gestaltung auch weitere Stakeholder wie z.B. Werbekunden und ihre Anforderungen eine Rolle. Durch mangelnde Kooperation von Produktmanagement und Technik waren manche Produkte überkomplex, andere konnten zentrale Nutzerbedürfnisse (User needs) nicht erfüllen.
Die Ergebnisse wurden für jeden Verlag in Form einer umfangreichen Fallstudie dokumentiert und Anfang 2020 übergeben. Für jedes Fachmagazin wurde dabei eine Empfehlung für die Ausgestaltung der digitalen Variante(n) und die Behebung der festgestellten Schwächen formuliert. Das Feedback aller acht Verlage war sehr positiv. Viele der ermittelten Verbesserungsvorschläge wurden kurz nach Übergabe der Fallstudien bereits umgesetzt, darunter die Behebung von Verlinkungsfehlern, einfachere und schnellere Zugriffsprozesse, verbesserte Hypertextnutzung durch voll verlinkte Inhaltsverzeichnisse, Integration neuer Medienformate wie Videos und Podcasts, aber auch Ansätze integrierter Digitalstrategien in der Produktentwicklung.